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Oskar

 

Für heute Nacht muss dieses windschiefe Motel genügen. Eigentlich heisst es nur „Mot“, das „el“ an der Leuchtschrift über dem Eingang hängt schief, ist erloschen. „El“, einer der Gottesnamen im Hebräischen (vor langer Zeit gelernt). Der erloschene Gott. Ich liege auf dem Bett mit Eisengestell, quietschende Federung, halte Abstand vom muffigen Kissen. Von der Strasse dringen Lichter herauf, werfen schiefe Flächen an Decke und Wände. Von Zeit zu Zeit vorbeifahrende Autos, Scheinwerferlicht fährt weisslich, schleierhaft und mechanisch Wand und Decke entlang, in der Kante gebrochen, bläht sich auf, um dann blitzschnell schrumpfend in sich zusammenzufallen. Die entstehenden Licht- und Schattenflächen sind ungeordnet, in Teilen verschoben, einander überdeckend und schwer zu ergründen. Ein Globus steht im Schein der Strassenbeleuchtung auf einem eintürigen Schrank, hat einen matten Glanzpunkt auf seiner staubigen Rundung, ein lederapfelartiges Aussehen und scheint zu fragen: Was mache ich hier. Schlaflos liege ich da. Der Mond wandert hell und klar durch das Viereck des Fensters, in seinem Halo dämmern Erinnerungen auf, Bilder und Phantasmen, die sich nicht alle der Wirklichkeit zuordnen lassen.

 

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Vor Jahren hat mich die Nachricht erreicht, Oskars Frau sei - wie es geheissen hat - verschwunden, sie werde, ohne dass Näheres zu entnehmen gewesen ist, seit mehreren Monaten vermisst, sei mit polizeilicher Unterstützung längere Zeit intensiv gesucht worden, ohne Erfolg.

Diese dem Tätigkeitsbericht des Vereins angefügte Notiz habe ich damals ohne grosse innere Regung zur Kenntnis genommen. Dieser Oskar ist mir kaum bekannt gewesen, hat zufällig den gleichen Vornamen wie ich gehabt, ich habe ihn dann und wann bei Anlässen flüchtig gesehen, von ferne, und - wenn ich mich recht erinnere - nie ein Wort mit ihm gewechselt. Er war mir immer erschienen als wenig gesprächiger Mensch mit abweisender Miene, und diesen meinen Eindruck bestätigten angelegentlich mitgehörte Bemerkungen von Kollegen. Die üblichen allwissenden Vereinskollegen: Die Rede war hinter vorgehaltener Hand von Eheproblemen, persönlichen und psychischen Schwierigkeiten. Das trug dazu bei, dass ich nie den Wunsch hatte, näher zu treten. Etwas wie ein unsichtbares Warnschild umgab diesen Oskar, darauf aufgemalt nicht gerade ein Totenkopf. Aber so ähnlich.

Einen Moment habe ich vielleicht damals erwogen, mit dieser Notiz zu meiner Frau zu gehen. Vielleicht. Doch mit ihr über Eheprobleme anderer Paare zu reden, ist mir wenig ratsam erschienen. Wir waren selber in dieser Hinsicht in den vergangenen Zeiten, die sich inzwischen auf Jahre ausgedehnt hatten, mehr und mehr aus Takt und Übung geraten und vom schmalen Glücksweg zunehmend abgekommen. Nicht gering ist mir die Gefahr erschienen, diese Thematik führe uns alsbald in die Irre, zu Sarkasmus, Zynismus, Streit. Ich bin also stehen geblieben, habe aus dem Fenster geschaut, einige Atemzüge getan. Dort ist damals ein kleiner Vogel mit spitzem Schnabel wild auf Baumzapfen losgegangen. Von seinem Schnabel her hat sich ein dunkler Strich über seine Augen bis in den gefiederten Nacken gezogen, einfach so, ein Lidstrich von vollendeter Schönheit, darüber ein weisses Krönchen aus leicht gespreizten Federn. Beim Picken hat der Kopf heftig ruckende Bewegungen gemacht. Es hat beeindruckend ausgesehen, wie dieser winzige, weiss bekrönte Vogel, absichtslos schön, sich mit aller Kraft über den halb gefrorenen Baumzapfen hergemacht hat, seinen Schnabel wild hineingehauen hat, ihn zerstörte. So ist das Leben, sagte ich mir damals. Überwältigend schön und grausam.

 

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Einige Jahre später ist die Einladung zu einer Abschiedsfeier gekommen. So hat es geheissen. Ich bin hingegangen, natürlich, meine Frau hat mich begleitet, das gehört sich so, ist ja klar. Wir sind nicht sehr zahlreich gewesen, sind hinter dem anderen Oskar hergegangen, in dessen blassem Gesicht schwarze Augen regungslos wie gläserne Kugeln gestanden sind. Vor ihm ein Mann mit langem schwarzem Mantel, der eine Art von blumenbekränzter Urne getragen hat. Sie ist, wie wir alle angenommen haben, leer gewesen. Er hat sie auf einen Tisch gestellt, ein Geistlicher ist erschienen und hat eine lange Ansprache gehalten. Ich allerdings habe damals nichts von dem verstanden, was er gesagt hat, habe es nicht einmal gehört. Als ich die Fotografie der Frau vorne auf dem Tisch gesehen habe, ist mir schlagartig schwindlig, heiss und kalt zugleich geworden. Ein leicht assymmetrisches Gesicht, etwas heiss leuchtendes in den Augen. Ein Hieb wie von einer unsichtbaren Waffe hat mich da völlig unvorbereitet getroffen, Magen und Herz im Krampf, Schwindel, Schweiss. Ich habe mich mit äusserster Anstrengung zusammengerissen, meine Frau hat, glaube ich, nichts mitbekommen. Zum Glück. Manchmal hat es auch Vorteile, dass ich nur mehr zu den Randzonen ihrer Aufmerksamkeit gehöre.

 

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Vor sehr langer Zeit, so erinnere ich mich,  bin ich mit dieser meiner Frau, die damals nichts anderes als eine neue Bekannte gewesen ist, zu einem Jahreswechsel - tiefer Winter, grimmige Temperaturen - aufs Land hinaus gefahren. Wir waren uns bis zu diesem Zeitpunkt kaum nähergekommen, es ist in der Schwebe gelegen, ob wir zusammen einen Ausflug freundschaftlicher Art unternehmen - oder ob vielleicht mehr daraus würde. Diesen Schwebezustand habe ich, wie ich mich heute deutlich erinnere, angenehm, prickelnd empfunden, er hat mein sonst eher melancholisches Gemüt hinübergerettet in eine leichten Erregung. Jung zu sein ist schön gewesen damals, der Horizont offen, vieles möglich, wenig verpflichtend. In einem kalten, ungeheizten Hotelzimmer abseits der ausgetretenen Pfade haben wir dann der kruden, wenig romantischen Realität ihren Tribut geleistet und sind im Doppelbett nahe gerückt, mit allen Kleidern wohlverstanden. Das ist wie ein Spiel aus der Kinderzeit gewesen; was sich dabei zu regen begonnen hat, hat sich ignorieren lassen. Während draussen der Schnee gefallen ist, lautlos und unaufhörlich, sind wir später in den Speisesaal hinunter gegangen. Die Stimmung ist schön gewesen, Winter, Stille, riesige Schneeflocken sind durch das Licht der Strassenlaternen geschwebt und ins Dunkel gefallen. Wir sind sind die einzigen Gäste gewesen, nach dem Essen still vor einem Glas Rotwein gesessen. Eine junge, mollige Kellnerin in Minirock und weisser Schürze ist in einer Ecke gestanden und hat uns beobachtet wie ein Schiesshund, wir haben kaum gewagt die Hand zu rühren, weil sie die kleinste Bewegung als Aufforderung angesehen hat, zu unserem Tisch gerannt zu kommen und nach unseren Wünschen zu fragen. Wir haben keine gehabt, sind sitzen geblieben und haben auf die Strasse hinaus geschaut, über die sich langsam der Schnee gelegt hat.  

Auf der Treppe hinauf zum Zimmer haben wir dann angefangen uns zu küssen, in den ersten unsicheren, schüchtern kundigen, grenzforschenden Küssen lag etwas Jungfräuliches, das die Anziehungskraft beträchtlich erhöhte. Im Bett dann freigiebigere Zungenspiele, und in dieser Nacht haben wir sogleich in Hitze und Erwallung unser erstes Kind gezeugt, unbeabsichtigt, aber ohne Bedauern. Gleich darauf, als ich völlig aufgelöst und von orgastischen Gefühlen überwältigt dagelegen bin, habe ich mir zu meiner eigenen Verwunderung den Tod gewünscht, gewaltig sind die herantosenden, sich verströmenden Fluten gewesen, nichts hat daran gehindert, hier und jetzt gleich an Ort und Stelle zu sterben, alles war getan, was hat noch kommen können, und was übertraf an majestätischer Intimität sogar noch die Sexualität, wenn nicht der Tod? Doch nichts ist geschehen, mein Atem ist gekommen und gegangen, wie der ihrige, den ich an meinem Ohr gepürt habe. Das Licht einer Strassenlaterne ist damals durch das geschliffene Glas eines Fensters gefallen und hat unten an der Badezimmerwand ein kleines, schwaches Regenbogenspektrum erzeugt. Das mikroskopische Ereignis tief im Innern meiner Gefährtin, die damals zu meiner Braut geworden ist, verband sich in meinem Kopf fortan mit diesem blassen, nächtlichen Hauskobold der Lichtbrechung.

 

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In den nachfolgenden Ehejahren, im zunehmend engen, ständigen Miteinander, dem Alltagsgewusel, Kindergeschrei und dem Überdruss des ewig gestrig-gleichen sind dann unsere Intimitätszumessungen nach und nach knapp geworden und immer knapper. Ich habe mir Mühe gegeben, meine Bedürfnisse einzuschränken, mich anzupassen, sogar einen gewissen Gefallen an meiner zunehmenden Trockenheit gefunden. Meine immer müheloser gelingende Verkörperung eines wohlerzogenen und rücksichtsvollen Ehemannes hiess zwar eine Rolle spielen, aber eine schmeichelhafte, für die ich von allen möglichen uninteressanten Menschen viel Anerkennung erhielt. Weiter sind gekommen Beförderungen im Beruf, noch zwei Kinder, Ferien in Frankreich, Griechenland, Norwegen und den USA. Meine Verkörperung eines wohlerzogenen Langweilers unter Anleitung meiner Ehefrau ist immer überzeugender geworden. Eine erotische Eruption, ein orgastisches Aufbäumen wie in der ersten Nacht hat es nie wieder gegeben. Ich habe die Wahl gehabt und mich für eine Ehefrau entschieden, und eine Ehefrau war sie, nicht weniger, nicht mehr. Und ich „ihr Mann“. Und einen Regenbogen wie den Hauskobold der Lichtbrechung habe ich nie mehr gesehen.

 

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Wenn ich nachts wachliege, denke ich an all das zurück, versuche, vergangene Zeiten zu rekapitulieren, Tag um Tag, Stunde um Stunde, Monat um Monat, forsche nach, wo wären die verpassten Abzweigungen gewesen, die übersehenen schmalen Pfade zur Glückseligkeit. Dabei mischen sich Vorgänge ein, die Tage, Wochen, Monate, Jahre zurückliegen; unendlich scheint er sich auszuweiten, der Raum der Vergangenheit. Und ich merke, dass mir immer wieder Erfundenes dazwischenkommt. Dabei habe ich wenig Phantasie; erfinden ist nicht meine Stärke, eher ist es die Erinnerung, die - wenn sie aus der Zone des Vergessens nicht herausfindet - sich mit Erfundenem gewissermassen weiterhilft. Es gibt nichts Beständiges, soviel ist klar, was man irrtümlicherweise dafür halten mag, ist bloss unserer mikroskopischen Zeitauffassung geschuldet, die die Sterblichkeit mit sich im Schlepptau führt. Ich weine heimlich immer mal wieder - wie ich selber finde - zu schnell, wenn ich Geschichten von unglücklichen, unerfüllten, nicht eingestandenen Lieben lese, in mir die stille, klamme Frage, ob ICH irgendwo auf meinem Lebensweg die eine, einzige, grosse Liebe verpasst oder schlicht übersehen habe. Versuche ich mich auch daran zu erinnern, wüsste ich nicht wo, wann, bei wem. Gewiss gab es Zeiten, Orte, Frauen - doch die grossen, wahren, einzigen Lieben waren das nicht, eher Strohfeuer in düsteren Zeiten. Und solche Feuer gehen schneller aus, als man meint.

Mein Traum - erinnert oder erfunden - war einst gewesen, in verschiedenen Städten, an verschiedenen Orten, in verschiedenen Ländern sogar verschiedene Frauen zu haben, diese von Zeit zu Zeit zu besuchen; das Irreale daran wurde mir selber bald einmal klar, war doch schon eine Einzige für mich fast zu viel. Es war ein Versuch zum Sprung aus dem melancholischen Solitär ins überhebliche Angebertum. Bei jeder wirklichen Begegnung kam es nicht nur zu Heimsuchungen, sondern auch zu subtilen Veränderungen und Verwerfungen, zu vorerst kaum wahrnehmbaren Transformationen, die - wenn sie offenbar wurden - meinen Lebensweg bereits unumkehrbar und auf immer verändert hatten. Schon nur zu reden war ein Risiko: Zu zweit schweigen war schwer, also redete ich, viel, zu viel, wie ich fand, die flüchtige, hauchzarte Präsenz des Innern wurde dabei zerstört, alles weg. Wozu? Nur, um gelegentlich ficken zu können? Gleichzeitig ärgerte mich die Hilflosigkeit, in die ich durch diese wirren Gefühle immer wieder geriet, und das wurde mit den Jahren nicht besser. War einmal der zarte Hauch des Ewigen im Innern weg, verblasen, dauerte es sehr lange, bis das Erloschene wieder zu leuchten begann. Redend um nicht zu schweigen brachte ich die goldenen Fäden aus meinem Leben zum verschwinden, zurück blieb ein verschlissenes, abgebrauchtes Tuch. Wann würde ich endlich lernen, dass man vieles, fast alles, mehr als man meinte, schweigend ruhen lassen musste, damit es leuchtete? Und in diese Fluss von inneren Wirrungen mischte sich dauernd ein anderer Fluss, der so bewusst gar nicht immer unbedingt war; ein dauernd ablaufender von äusseren Ereignissen genährter emotional-halbheitlicher Prozess, Gedanken, Gefühle, alles in Teilen und Fetzen; sowohl die äusseren Ereignisse wie der innere Fluss waren unmöglich vollständig zu erfassen, wiederzugeben; die Wahrnehmung, innen und aussen, war unglaublich reich, ein STROM eben, dauernd strömend, übrigens sogar nachts; über-strömend. Wenn ich etwa anhielt und einen Kaffee trank irgendwo im Land, überlegte ich im leichthinnigen Schatten des Halbbewussten, ob wohl die hiesige rabenschwarze Serviererin die Innenfarbe ihres Geschlechts auch schon einmal mit einem Spiegel betrachtet hatte - und ob diese so rosa (was zum schwarz ihrer Haut ungemein reizvoll sein müsste) war, wie ich mir das vorstellte. Obwohl ich noch nie einen solchen Augenschein zu nehmen die Gelegenheit gehabt hatte. Sie sass auf einem Stuhl, trank auch Kaffee, drehte mir den Rücken zu, verklebte Couverts, wusste zum Glück nichts von meinen halbschattigen Gedanken. Diese machten mir halb Freude, als Zeichen, dass das Leben eben mehr war, ungestümer war als bürgerlicher Wohlanstand und Sitte möchten; beides war nun einmal der Mensch, beides machte ihn aus und noch viel mehr: die Farbe seines Geschlechts und die Gesamtheit seiner Erscheinung; biologische Wesenheit, Fortpflanzungsapparatur und leib-seelisch-geistige Wesenheit, Humanum, Mensch eben. Andererseits brachte mich solcherlei in Erklärungsnot: Wer war ich, dass ich solche Gedanken hatte? Und ja, vielleicht, machten sie mich auch ein Stücklein einsam, was noch einmal ambivalent war, eine Sache, die ich liebte und an der ich litt. All dies, kurz gesagt, gab meinem alten Gefühl der Unauslotbarkeit des Eigenen und Fremden immer neu Nahrung; es gelang mir kaum je, derlei auszuschalten - und eigentlich wollte ich es auch gar nicht. Obwohl, soviel war mir klar, all das war nicht, was man von einem Familienvater und gestandenen Mann erwarten durfte. Nur eben: Doppelböden, Mehrfachdecken, verwinkelte Ecken, staubige Keller, aber auch fliegende Paradiesvögel: Je länger ich das Wort Mensch betrachtete, desto ferner blickte es zurück.

 

                                                                                   ✯

 

Irgend einmal habe ich dann angefangen, ausserhalb der Familie die Kraft zu sammeln, die ich brauchte, um die Familie aufrechtzuerhalten. Es hat wohl mit Mangel an Nähe zu tun gehabt. In meinem privaten Universum sich ausdehnender Distanzen habe ich immer seltener das Vergnügen gehabt, Nähe zu spüren. Am ehesten noch bei den Kindern, die aber zu schnell gross wurden und meiner bald kaum mehr zu bedürfen schienen. Zu Hause herrschte ein mit undurchdringlicher Würde gewahrter Abstand, der sich im Laufe der Zeit leise und leicht, unausgesprochen und unbarmherzig vergrösserte.

Dann habe ich L. kennen gelernt, ich war beruflich in der Stadt, suchte in einem Antiquariat nach dem Versprechen, das Bücher sein können, war überwältigt und zunehmend überfordert von der Masse der Bücher, von denen niemand mehr etwas wissen wollte, überlegte mir schon, wohin, um statt dem Stöbern in diesem tristen, staubigen Literaturfriedhof einen Kaffee zu trinken, bog um eine Gestellecke, und da stand sie. Zufällig kannte ich das Buch, das sie in der Hand hielt, und machte eine Bemerkung dazu. Sie sah auf, mich an, keine Schönheit im üblichen Sinn, aber ich wusste schon nach den ersten paar Worten, dass sie mit mir schlafen würde. Wir redeten wenig, und das war gut. Ihr Gesicht hatte etwas Asymmetrisches, was ihr stand, sie trug ihren breithüftigen, langgliedrigen Körper vorsichtig, als könnte er explodieren, sie hatte etwas heiss Leuchtendes, wie ein Glühfaden, in den zu viel Strom geleitet wurde. Sie war nicht die einzige, mit der ich in diesen Jahren vom Pfad ehelicher Treue abwich, versuchte, erneut die wilde feuchte Luft der Natur zu atmen; aber mit ihr war es intensiver als mit anderen. Ich erfand berufliche Gründe, um in die Stadt zu fahren, dort zu übernachten. An einem kleinen Blumenladen zu halten um einen Arm voll Rosen zu kaufen  bedeutete, wieder eine Rolle zu spielen, diesmal die des Verehrers. Das war aufregend, mein Herz klopfte und hüpfte.  Blumen und Alkohol - was sonst konnte ich mitbringen, um meine Dankbarkeit zu bekunden? Sex, für den man zahlte, wie unzureichend auch immer, war besser - klarer, nackter, direkter - als ehelicher Sex, von dem wir erwarten, dass er sich gratis an uns heranschleicht - und der eines Tages von erstarrten Routinen ausgelöscht ganz ausbleibt.

Ich fragte nicht viel. Sie sagte nicht viel. Was ich verstand war, dass sie mit dauerhaften Beziehungen abgeschlossen hatte. Das Leben war einfacher ohne, sagte sie einmal, und für die übrigen Bedürfnisse liessen sich Wege und Lösungen finden. Sie sagte das etwas zu sachlich, fand ich im Stillen. Aber ich schwieg. So eine Lösung war ich also. Ein paar mal sah sie mich sehr lange an, forschend, fing dann an zu lächeln und sagte: „Oskar?“. Es klang belustigt, und wie wenn sie meinem Namen abwägend nachlauschen würde. War sie mir wohlgesinnt? Gar verliebt? Oder war ich ihr im Grunde gleichgültig? Es war unklar. Wir waren, so sagte ich mir, etwas wie gegenseitige Gehhilfen, Gehilfen im entgleisten Leben. Und diese Hilfe war nicht zu verachten. Ich schlief nie bei ihr, ihr schien das recht zu sein, sie war gross und brauchte, wie sie einmal sagte, viel Platz. So kam es, dass ich eine zeitlang ein guter Kunde der Taxis wurde, die weit nach Mitternacht durch die leere Stadt fuhren. Der Fahrer und ich waren auf der Rückfahrt zum Hotel meistens in Plauderlaune; er freute sich, einen Fahrgast zu haben, und mir war die Zunge gelöst durch sexuellen Triumph und das Gefühl, entkommen, keine neuen Verpflichtungen eingegangen zu sein. Diese Fahrten durch die fast menschenleere Stadt hatten etwas Klares, Wahres; ich fühlte mich wieder auf Kurs, unterwegs als Passagier in etwas, das ich insgeheim mein eigenes Leben nannte. Wenn ich vor dem Hotel ausstieg, den Fahrer bezahlte, in meiner erhitzten Deragiertheit am keine Miene verziehenden Portier vorbeiging in den Lift und zum fensterlosen Flur hinauffuhr, der zu meinem stillen, wartenden Zimmer führte, vereinigte ich mich wieder mit dem anderen Selbst, das hier geblieben war. Das Bett war kühl, die Laken straff gepannt, auf dem Kopfkissen lag ein Pfefferminzplätzchen.

Das ging gut so, eine ganze Zeit lang. Dann plötzlich verschwand L. Sie war freier als ich, eine auf Schmerz und Enttäuschung gegründete Unabhängigkeit. So empfand ich es. Sie vermochte sich ganz und gar dem Augenblick hinzugeben, blind und rückhaltlos dem entgegenzustürzen, was gerade, was hier und jetzt war. Es dauerte eine ganze Weile, ich suchte sie zu erreichen, rief an, erfuhr von einer unbeteiligten Maschinenstimme, dass es unter dieser Nummer keinen Anschluss gab, ging einmal, zweimal, dreimal vorbei in der Stadt. Die Namensschilder an Klingel und Briefkasten war verschwunden, zwei blecherne Lücken blickten blind, niemand antwortete auf mein Klingeln. Ich blickte auf die leeren Schilder, gleichgültig und regungslos auf mich gerichtet, wie die Gewehrläufe eines Erschiessungskommandos, sagte eine Stimme in meinem Kopf. Auf mich, der nicht zu fassen vermochte, wie leicht und leise ein Mensch aus einem Leben verschwinden kann, und welche Leere dabei erzeugt und zurückgelassen wird. Dass sie für mich mehr gewesen war als eine vorübergehende Gehilfin, wurde mir allmählich klarer, ich litt, und dass ich sie in der Folge nicht entschlossener gesucht habe, beschämt mich bis heute, einer der zahlreichen Fehler, die ich im Leben gemacht habe, beim Gedanken daran wallt Scham auf in mir wie das trübschwarze Wasser eines moorigen Sees, ich hatte sie wieder sehen wollen, unbedingt, wirklich, möglichst bald. Aber, und das verstehe ich selber nicht, dann liess ich es einfach sein, nahm ihr Verschwinden hin. Es war ein Verlust, gewiss, bedeutete schlussendlich aber auch eine Erleichterung, entfernte eine verwirrende Gegenwart aus meiner Welt, ein Indiz für unausgeschöpfte Möglichkeiten, ein Hinweis auf die vielen ungelebten und nie lebbaren Leben. Von denen man hofft, sie seien vielleicht doch irgendwo, irgendwie möglich. Doch ein „alles ist möglich“ ist nur ein Nichts im Galaanzug.

 

                                                                                   ✯

 

Später - ich kann fast nicht sagen, wie lange das her ist - sind ich und meine Ehefrau noch einmal aufs Land hinaus gefahren, wie damals, in unseren Anfängen; dieses mal als unausgesprochener Versuch, unsere Beziehung zu reanimieren. Es war ein Aufstieg zu einem Berggasthof, auf dem aussichtsreichen höchsten Punkt der Gegend liegend, was sich als schwieriges Unterfangen erwies, denn dort oben lag Schnee, hüfthoch, und wir waren beide keineswegs ausgerüstet für solche Verhältnisse. Es war ein Versuch zu einer Ehetherapie im Gehen, nicht von Erfolg gekrönt, im Gegenteil, die Nacht allein im Bett in einem kalten, ungemütlichen Berggasthofzimmer, in dem ich wach lag und meine Frau in einem anderen Bett im gleichen Zimmer leise schnarchen hörte, beerdigte meine Hoffnungen. Ich stand schliesslich auf und ging hinaus. Es war eisig, kein Hauch regte sich, die Luft still und klar. Die Sterne waren aufgezogen, so prachtvoll, wie ich sie nur in der Kindheit über den Alpen gesehen hatte oder im Traum über der Wüste. Vom hohen Norden bis hinab an den südlichen Horizont breiteten die funkelnden Zeichen sich aus, die Wagendeichsel, der Drachenschweif, das Dreieck des Taurus, die Phiaden, der Schwan, der Pegasus, der Delfin. Ein kaltes Universum, von dem man nicht wissen konnte, ob - und falls ja, wie - es Anteil nahm. Radio, Radon, Neutrinos, Dunkle Energie - das war das Neueste, was sie entdeckt hatten. Angeblich trieb das All mit wachsender Geschwindigkeit auseinander, statt sich zusammenzuziehen, wie es eigentlich sollte. Bis es zu einer extrem dünnen Schleimsuppe geworden sein würde, die sich hin zum absoluten Nullpunkt abkühlte. Und für sich selber unsichtbar geworden war. Ich dachte an die netten, harmlosen Dinger, an die Menschen früher mal geglaubt hatten - Geister, Kobolde, Elfen, Einhörner. Jetzt gab es nur noch diese grauenvollen Kräfte, denen war man völlig egal. Sie wussten nicht einmal, dass es Menschen gab. Doch sicher war auch das nicht. Sicher war überhaupt nichts. Seit ich an jenem Morgen in der Kapelle bei der Beerdigung die grosse, gerahmte Fotografie von Oskars Frau gesehen hatte, assymmetrisches Gesicht, etwas heiss leuchtendes in den Augen, war mir das klar.

 

                                                                                   ✯

 

Die Monate seither habe ich in gesteigerter Schlaflosigkeit verbracht. Schlaflosigkeit hat mich schon ein Leben lang begleitet. Es hat Zeiten gegeben, in denen die Agonie endlos erschien, doch ohne Schlaflosigkeit wäre ich nicht endlose Stunden durch Ebenen und dunkle Bergtäler gefahren, während sich die Welt rundum in einen film noir verwandelte - jedes erleuchtete Haus ein Versprechen aus verblassendem Gold und den Mysterien des Alltags. Schlaflosigkeit, das ist allein sein in einem Bett oder allein in der Menge, während sich Stille über den Geist senkt und die Seele eine reale Möglichkeit wird - auch wenn sie in keinster Weise dem gleicht, was man in der Sonntagsschule lehren mag. Meine Zuflucht war die Einsamkeit immer, und die Nacht ist die Zeit zum Alleinsein - in der dunklen Küche vor den flüsternden Heizungsrohren sitzen, nichts tun ausser einfach sein: das Schwerste überhaupt. Eine Überlebensübung - nicht für den Körper, sondern für den Geist; ein Ort, wo man hingehen kann, um allein und unsichtbar zu sein und jenes stille Selbst zu bergen, das durch die Anforderungen des Lebens so übel gezaust und durcheinandergebracht wurde. Schlaflosigkeit mag ein Leiden sein und manchmal eine beinah untragbare Last; aber meiner Erfahrung nach ist sie auch eine Heilung, ein Weg zurück, ein einzigartiger Ort. Eine Wanderung auf der einsamen, unbewohnten, weglosen Felseninsel, die man selber ist.

 

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Wie ich jetzt lebe, dafür habe ich keine Bezeichnung. Für Dinge, die nicht vorgesehen sind, gibt es keine Bezeichnungen. Ich bin unterwegs, soviel lässt sich sagen. Fahre durch Landschaften, liege nachts schlaflos im Motel, dem das „el“ fehlt, sehe den staubbedeckten, lederapfelartigen Globus, gestrandet im Nichts. Und während der Stunden, in denen ich wach liege, schaue ich ab und zu hinüber zur Badezimmerwand. Manchmal scheint mir, ein kleines, schwaches Regenbogenspektrum glühe dort auf. Der Hauskobold der Lichtbrechung, ein Gruss von der anderen Seite. Am nächsten Morgen fahre ich weiter.  

 

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Höchstens eine allgemeine Richtung kann ich angeben: Westen. Heute morgen hat das Wetter sich gebessert. In der Ferne unter einem Wolkenballett liegen grünblaue Hügel, eine Strassenlinie schlängelt sich bergan und verliert sich in den Wäldern. Am Fenster stehend streife ich erneut durch Erinnerungen. Dann schüttle ich sie ab und fahre los. Fahre während Stunden durch eine einsame Waldgegend, entlang von Seen, die hinter vorbeiwandernden Baumstämmen hervorblinken, zarte Windmuster auf ihrer Oberfläche, und durch kleine Dörfer, in denen unbekannte Menschen ihr unbekanntes Leben leben. Ab und zu halte ich an, trinke Kaffee. Schaue, gegen innen und aussen, träume. Dann irgend einmal brauche ich Benzin, halte an. Die Sonne scheint auf die Tankstelle, es ist ein ruhiger, milder Tag, hinter dem Shop mit Kasse weiden Schafe, ein Lamm schaut mir aufmerksam zu. Ich weiss nicht, wo ich bin, wie der Ort heisst. Vögel singen, Autos stehen da, andere fahren gemächlich vorbei. Ein sanfter Wind des Aufbruchs, sagt eine Stimme in mir. Neben der Tankstelle ein grosser, alter Baum, mächtige Krone ragt turmhoch in den Himmel wie eine kreisrunde Kathedrale für die Vögel des Himmels. Mir scheint, jemand steht da im Schatten, aber ich achte nicht darauf. Die laut bimmelnde Türglocke erschreckt mich. Ich zahle das Benzin, kaufe etwas für unterwegs. Wieder das Klingeln. Ich gehe zum Wagen. Aus dem Augenwinkel sehe ich einen Schatten, der sich vom Baum löst. Als ich die Türe öffne, sagt eine Stimme hinter mir leise, belustigt und abwägend: „Oskar?“. Ich wende mich um. Assymmetrisches Gesicht, etwas heiss Leuchtendes.

 

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