
Heidegger
Wir fahren in ein entlegenes Dorf. Es ist Winter, grimmige Temperaturen, kein Mensch fährt jetzt in diese Gegend. Ausser eben wir, und wir sagen: Wir wollen nicht wie alle sein. Wie dann? Das wissen wir nicht genau, vieles scheint uns da möglich. Wir haben ein Buch gelesen, halb philosophisches Traktat, halb kulinarischer Exkurs, in diesem Dorf geschrieben, und in gewissen Kreisen zu einigem Renommé gekommen. Eigentlich habe ich es gelesen, ein Stück Renommé ist damit auf mich übergegangen. Ich gehöre zu einer per se raren Bevölkerungsgruppe, die aus gelesenen Büchern etwas Ansehen schöpfen kann. Gelesen haben ist dabei nicht einmal unbedingt nötig. Im Stillen weiss ich: Ich habe nur ein paar Seiten gelesen, mehr war nicht nötig, ja, wäre schädlich, hätte vielleicht die Stimmung verdorben. Es bringt mich in Stimmung, ein wenig hochstaplerisch zu sein. Die Welt verdient es nicht besser. Über Stimmung und Gestimmtheit hat Heidegger geschreiben. Ich habe nie Heidegger gelesen. Über Heidegger, ja. Der hiesige beliebte Gourmandphilosoph oder inzwischen beleibte Philosophengourmand schreibt unter anderem über philosophische Mahlzeiten. Metaphysische Tellerfolgen sozusagen: wie, wann, mit wem, wie lange hat Kant gespeist, worüber wurde disputiert, worüber nicht. Angereichert ist das mit Beschreibungen der überaus reichhaltigen Menue’s, die man ihm serviert. Deren Verzehr er alsbald durch lange Spaziergänge im Schnee zu kompensieren sucht. Nebenaspekt des vielen Essens und Spazierens ist Wäremeerzeugung, denn es ist kalt am Ort. Wenn er nicht trinkt, isst, spaziert oder schläft, liest er gelegentlich, redet von einer zu beendenden Arbeit, die anzupacken er sich nicht aufraffen kann. Das alles, und mehr, ergibt ein Buch. Papier nimmt eben alles an.
Ich sage, das Verrückte zieht uns an, das Normale erscheint verrückt. Ich sage, an den Rändern ist Luft und Licht, in den Zentren ist das Leben stickig grau. Ich sage, wir denken gross. Ich sage, ich bin pietistischer Anarchist, anarcho-romantischer Wiedergänger. Ich kann Marx zitieren, auf meiner Agenda, Rückseite, ist ein Kleber mit seinem bärtigen Profil. Der Mensch ist frei geboren und lebt in Ketten. Einstein kann ich zitieren, sein Konterfei ist auf der Vorderseite meiner Agenda. Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit, aber bei dem Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher. Je nach Lage und Situation zitiere ich, ich habe auch andere Zitate auf Lager. Sex und Religion haben einen deutlichen, uralten Geruch; Familien kleben wie unsichere Nester auf den verworrenen Zweigen vorausgegangener Geschichte. Der Tod kann mitten in der Nacht zuschlagen. Solches kommt gut an, erzeugt Verwirrung, Erstaunen, Bewunderung, niemand sagt mehr etwas. Nur leide ich darunter. Ich fühle mich falsch dabei. Ich finde selber, ich schmücke mein Nichtstun mit grossen Gedanken und eindrucksvollen Sprüchen aus. Doch es funktioniert (was mich deprimiert), also ändere ich nichts, ich reite dieses Steckenpferd weiter, doch langsam habe ich davon eine wunde Stelle an unschönem Ort. Ich sage weiter, das Buch des Philosophengourmets hat etwas, es muss mit diesem abgelegenen Ort zu tun haben. Was ich nicht sage: Ich sehne mich nach Bodenhaftung (zugleich verspotte ich sie). So auch das Buch, mit dem Essen, mit der Landschaft. Zugleich Sehnsucht und Spott. Ich sage wieder laut: Ich will da hinfahren. Nicht alles also, aber einiges sage ich zu Aline. Es gäbe noch mehr zu sagen, über mich, über uns, überhaupt. Aline ist eine Kommilitonin. Wir studieren, mehr oder weniger, zusammen. Aline sagt nichts, blickt an mir vorbei ins Unbekannte, daran habe ich mich gewöhnt. Obwohl es auch beunruhigend ist. Ich weiss, sie bewundert mich, warum, habe ich nie recht verstanden. Was wird sein, wenn sie es eines Tages herausfindet. Was wird sie sagen, wenn sie dannzumal spricht.
Den Zug herauszusuchen ist heutzutage einfach und geht schnell. Man tippt mit spitzem Finger auf ein Icon. Gibt Abfahrs- und Zielort ein. Und schon öffnet sich eine lange Liste mit Verbindungen, Umsteigeinformationen. Ich suche den Zug heraus, die Fahrt dauert einen halben Tag, sie sitzt neben mir, die leeren Wagen scheppern gemächlich dahin durch verschneite Tallandschaften. Viele Kurven. Wir schauen aus dem Fenster auf zahllose vorbeiziehende verschneite Tannen, die Schneelast drückt ihre Äste ins ebenfalls schneebedeckte Gelände hinein. Ich habe den Eindruck, von vielen Bäumen hängen gefrorene Schnüre, steif, eisklebrig. Oder sind das Eiszapfen. Gelegentlich Tierspuren im tiefen Schnee. Riesige Kolkraben segeln über den hohen Tannenspitzen, man fragt sich, wovon und wie die leben. Wir reden nichts, denken nichts, diese fremdartige Landschaft genügt uns vollauf. Wir kommen endlich an, steigen aus. Der Schnee auf dem Bahnsteig wurde nicht geräumt, er knirscht unter unseren dünnen Stoffturnschuhen mit abgelaufener Gummisohle, wir rutschen, die Füsse werden sofort kalt. Wir sind die einzigen Passagiere, die hier aussteigen. Der Zug will weiter, muss vorwärts machen. Am Ort scheint alles zu, kein einziger Mensch auf der einzigen Strasse. Das Schild mit dem Stationsnamen hängt schief, etwas ist kaputt. Wir suchen und finden das Gasthaus, in dem der philosophische Kulinariker abgestiegen ist. Alles dunkel, Türe verriegelt, keinerlei Angaben. Wegen zu geschlossen. Was nun. Wir stapfen durch den Schnee zurück zur Station, die Füsse sind jetzt kalt und nass. Dort finden wir eine andere Unterkunft, die geschlossen aussieht, aber offen ist. Wir atmen auf, treten ein. Links eine schalterartige Nische, eine Art von Reception. Auf ihrer Ablage ein abgegriffenes grünes Buch, auf dem Umschlag steht „Gäste“. Ich trage mich ein. Beruf: „Artiste Peintre Suisse“. Ich kann überhaupt nicht malen. Auch bin ich kein Künstler, höchstens wäre ich gerne Lebenskünstler. Doch alles scheint möglich, der Horizont ist offen. „Anarchischer Pietist“ will ich nicht hinschreiben, zu umständlich. Zu unverständlich. Durch den Gang kommt eine würfelförmige, solid erdhafte Gestalt. Es ist der Wirt. Ihm ist es egal, was ich schreibe, er hat zwei ansehnliche Geldscheine in meinem Portemonnaie gesehen. Er kommt direkt aus der Küche, die Hand, die er nach Ortsgebrauch zum Gruss reicht, kommt rot, feucht und aufgedunsen zum Vorschein, wie Wurstware, aber sie fühlt sich hart an, kompakt und kalt. So im Abseits hat das Land mehr Schwerkraft. Es lässt Leiber zu mächtigen Panzern aufgehen; es hält die Menschen fest. Davon gibt der Mann ein Bild. Er scheint von einer ländlich unbedarften Friedlichkeit und Manierlichkeit zu sein, als ob es keine Unterströmungen im Leben gebe. Er macht mir Angst. Das Linoleum riecht nach Reinigungsmittel, aus der Küche ein Hauch Käse und Knoblauch.
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Das Zimmer ist sehr günstig, sehr kalt, wir drehen die Heizung bis zum Anschlag hoch und kriechen in allen Kleidern unter die wuchtige Decke, umklammern uns zwischen den schockgefrorenen Laken. Ich bin im Ausguck des Wärmebunkers. Ein nackter Neonring pendelt am Draht von der wasserfleckigen Decke. Gelbstichige Tapeten lösen sich von den Wänden, ein Wäschekasten, darauf eine staubbraune Globuskugel. Ein Stuhl, Plastik, rot, an die Wand gelehnt, ein Bein halblang. Unter dem Lavabo ein gräulichbrauner Kübel aus Plastik. Wir leben in Zeiten, in denen sich die Widersprüche des Kapitals zuspitzen, murmle ich in die Decke. Und was kommt danach? Das Reich der Freiheit. Wer sagt das? Karl Marx, Das Kapital, Band III, und in Band I, im Abschnitt zur transitorischen Notwendigkeit der kapitalistischen Produktionsweise. Von der Strasse her dringen Lichter herauf und werfen schiefe Flächen an die Decke. Schief, das ist das Wort zur Zeit. Selten ein vorbeifahrendes Auto, Scheinwerferlicht fährt blass über Wände und Decke, sich aufblähend, dann blitzschnell zusammensackend. Was ist Licht, was Schatten? Schwer zu ergründen. Der Globus dagegen bleibt, ihm können die Beleuchtungswechsel nichts anhaben, er steht geduldig auf dem Wäschekasten, macht kein Aufhebens, nimmt die Dinge hin. Er hat einen matten Glanzpunkt auf seiner staubigen Rundung und ein lederapfelartiges Aussehen. Unter dem Deckenmonstrum wird es langsam wärmer. Draussen wird es Nacht. Ich rege mich nicht, verharre in der Wärmekuhle. So kann ich der Stille lauschen. Ich mache minutenlang nichts anderes als zu atmen, höre nichts weiter als die Luft, die mir in die Lunge und durch die Atemwege wieder hinaus fliesst. Dabei erreiche ich einen Zustand, der zwar nicht Frieden ist, aber das Potential dazu hat. Im Halbschlaf bewegt sich der Globus mit meiner Atmung. Atme ich ein, nimmt er ab. Atme ich aus, wird er grösser. Meine Hand habe ich in die Tasche geschoben. Ich spüre meinen Talisman, das Feuerzeug mit dem Bild der Frau. Ihr Bikini verschwindet, wenn man es länger in der Hand hält. Ich würde es gerne herausnehmen und anschauen, bin aber zu müde. Ich stelle mir ihre glitzernden Achtzigerjahre-Dauerwellen vor, stelle mir vor, wie ich den Daumen vom Plastik nehme, zwei winzige rosa Punkte stellen ihre Nippel dar. Immer wieder betätige ich das Rädchen, lasse die Flamme aber nicht werden. Ich spüre die Wärme der Funken in meiner Hose. Ich schlafe ein.
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Das Essen ist - wie man hier sagt - wärschaft, ein nahrhaftes Bauern- und Holzfällermenu, riesige fettig-salzige Würste, Kartoffeln und Rotkraut, in Butter gedämpft. Nicht zu knapp Butter. Als Gegenmittel gegen die fettige, schwer aufliegende Nahrung trinken wir Rotwein. Ich habe alle monetäre Vernunft fahren lassen und eine Flasche Dole des Monts bestellt. Zur Nachspeise gibt es die sogenannte Meringue, dazu Vanilleeis, alles unter einem hohen Berg von steif geschlagenem Doppelrahm. Im Treppenhaus, auf dem Weg zum Zimmer, in Erwartung der kommenden Kälte und in Gestimmtheit gebracht von Weinwirkung, im fahlen, durch die Fenster fallenden Licht der Strassenlaternen küssen wir uns. Ihre Lippen passen sich unerwartet weich und warm den meinen an; sie drückt ihren Mund leicht in den Kuss, sucht etwas darin. Ich fühle mich von einem Strom mitgenommen, der entgegen der Richtung alltäglicher Ereignisse fliesst, bekomme kaum noch Luft, löse den Kontakt, trete einen Schritt zurück. Wir sehen uns an, unsere Augen glänzend wie schwarze Knöpfe im Licht der Natriumdampflampen. Dann küsse ich sie abermals, trete ein in den stillen warmen Raum, um den das Universum sich dreht. Ihre Unsicherheit, ihre schüchternen kundigen Küsse, sie hat etwas jungfräulich Anmutiges, was die Anziehungskraft für mich beträchtlich erhöht. Später im Bett, zögernd, tastend, freudig und zuletzt freigiebig schenkt sie mir himmlische Liebkosungen, paradiesische Zungenspiele. Wir zeugen sogleich in Hitze und Aufwallung unser erstes Kind, unbeabsichtigt, aber ohne Bedauern. Pardon, hochgestapelt, schön wär’s, aber nein, es gibt Gegenmassnahmen. Gleich darauf, als ich völlig aufgelöst von orgastischen Gefühlen daliege, wünschte ich mir den Tod, gewaltig sind die herantosenden, sich verströmenden Fluten gewesen, nichts hindert daran, hier und jetzt gleich an Ort und Stelle zu sterben, alles ist getan, was kann noch kommen, und was übertrifft an majestätischer Intimität sogar noch die Sexualität, wenn nicht der Tod? Doch nichts geschieht, mein Atem bleibt, kommt und geht, wie der ihrige, den ich an meinem Ohr spüre. Wir dämmern gemeinsam weg, ich sehe die Katze, die draussen auf dem Fensterbrett sitzt, regungslos ins Zimmer hineinstarrt, ihre Augen funkeln in der Nacht wie Scherben aus blassem Glas, ihr schwarzweisses Fell erinnert an Rorschachtests oder an Landkarten von einem einfacheren Planeten als unserem. Ich denke an meine Spermien, die gerade jetzt tief in Aline gegen ein künstliches Hindernis anrennen. Dieses mikroskopische Ereignis tief im Innern meiner Braut verbindet sich in meinem Kopf von nun an mit dem Bild dieses schwarzweissen Landkarten-Hauskobolds.
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Am nächsten Morgen hat es wieder geschneit, die Tochter des Gastwirts räumt vor dem Haus mit einer blechig kratzenden Stossschaufel den Schnee weg. Sie hat ein eigenartig grobes, asymetrisches Gesicht, ein wenig männlich, ein Hauch von Bartwuchs auf der Oberlippe. Was ist wohl mit ihr, die trotzdem halb wie ein Mädchen aussieht? Sie hat einen sehr anziehenden Körper, prächtiger Hintern, wunderbare Schenkel, kleine Brüste und dieses seltsame Gesicht, das irgendwie nicht zum Rest passt. Wenn es stimmt, was der Würfelwirt beim Frühstück sagt, ist sie fast 40 Jahre alt. Rätselhaft. Sie sieht sehr viel jünger aus.
Nach dem Frühstück zeigt sich, dass hier und so nicht an die Stimmung des Buches heranzukommen ist. Nebel zieht auf, es schneit weiter, wir sind in einer Blase aus Erstarrung und Erdhaftigkeit angekommen. Hier geht es um Überleben, und Wurzelschlagen, für Literatur, Artisterei und Gestimmtheit ist weder Zeit noch Raum. Wir fahren zurück in die Stadt, zu unseren Büchern, deren viele mit der Wirklichkeit kaum abzugleichen sind.
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