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Der einsame Soloist
Konnte es sein, dass die Gefühle vielleicht am Ende dort am tiefsten waren, wo sie am Nichtigsten sich bewährten? Die Frage stieg auf in ihm, immer häufiger, sie fragte nach dem Nichtigsten, schien selber aus der Ferne zu kommen, von weit her, und doch von dort, wo dunkle Erinnerungen lagern, Einzelnes, Zusammenhängendes, Zerrissenes, Fetzen, Reste, Spuren und Bilder, von der Zeit wie mit Staub überschichtete, unkenntliche Ablagerungen. So wie wenn Asche angeblasen wird, ohne den geringsten Widerstand auseinanderfliegt und mit einem Mal der Blick sich eröffnet auf ein glänzend edles Stück darunter, so glomm diese Frage immer wieder auf in ihm. Und erlosch wieder. Doch er verstand weder die Frage noch kannte er eine Antwort.
Ohne dass er zu sagen wusste warum, war dieser fragende Satz zum Ende des im übrigen einfachen, aber köstlichen Nachtessens – Insalata mista, Penne con Scampi, Gelati und natürlich Vino Rosso regionale – wieder aufgetaucht. Sie machte ihn müde, bettschwer, bereit, in einen langen, möglichst endlosen Schlaf einzutauchen, dennoch tat er einige Schritte - wie er sich sagte - hinaus in die frische, kühle Abendluft. Das Gehen tat wohl, und just mit dem Einbruch der Dämmerung gelangte er auf einen erhöhten Platz. Von diesem Aussichtsposten konnte er hinausblicken über Dorf und Meer. Die Nacht begann hereinzubrechen, und wie in einem Labyrinth nahm in den verwinkelten Gassen des Ortes die Beleuchtung nach und nach ihren Dienst auf. Zittrige Lichtspuren sprangen an in flackernden Anläufen, orangefarbiger Sodiumglanz zeichnete ein Spinnennetz entlang den verwinkelten Gässchen und Passagen. Ihm schien dies ein gleichsam kläglicher Versuch, der sich jetzt ausbreitenden übermächtigen Dunkelheit wenigstens ein Geringes entgegenzusetzen. Das nachtschwarze, still daliegende Meer und der wie in einem plötzliche Lichtsturz sich völlig verdunkelnde Himmel zerflossen irgendwo in der unermesslichen Weite ineinander, ohne dass der geringste Ansatz einer Horizontlinie auszumachen gewesen wäre, Meer und Himmel schienen in der Ferne sich verschränkend zu vereinen wie ein einzig einig Wesen, alles umfassend und alles Licht vernichtend in schwarzer Nacht. Kein Hauch regte sich. Die Schatten stiegen an den Felswänden hinter dem Ort empor, riesig und immer steiler erscheinend erhoben sie sich drohenden Kulissen gleich über den armseligen Lichtern des Dorfes, so dass er meinte, sie neigten sich ihm immer mehr entgegen und würden im nächsten Augenblick über ihn hinweg und ins Meer hinausstürzen. Er fröstelte. Da traten hervor die Sterne über ihm aus der Tiefe des Weltenraumes, einer nach dem andern, bis das Schwarz des Himmels übersät war von zahllosen schimmernden Lichtpunkten. Eingehüllt in Dunkelheit war ihm plötzlich, als befände er sich am obersten Punkt der Erde, dort, wo der Abgrund des Weltalls sich funkelnd und in unsagbarer Langsamkeit um den reglosen Beobachter herum dreht. Er fror, taumelnde Müdigkeit ergriff ihn, beinahe hätte er das Gleichgewicht verloren. Weit sah er von seinem Posten hinaus in die schwarze Nacht und tief hinein in die Dunkelheit. Da war ihm, als stünde unmittelbar bevor eine Art von Offenbarung, als sei Alles kurz davor, sich auf eine andere Ebene zu begeben, als stehe er vor etwas Unnennbarem, endgültig Wichtigem; als triebe er in der Strömung der Nacht weit hinaus in ein zugleich ersehntes und gefürchtetes Reich. Doch nichts geschah. Eine kleine Weile lang sah er sich selber, wie er auf diesem seinem Aussichtsposten schwebte zwischen Zeit und Ewigkeit, Jetzt und Erlösung, Licht und Schatten. Genau in der Mitte.
Dann wandte er sich um und ging vor Müdigkeit schwankend zurück in sein Zimmer. Dort träumte er, wie er ausflog in eine grenzenlos weite Sphäre und nie mehr zurückfand. Er sah sich selber, wie er im Korb eines Fesselballons in der Ecke kauerte, mit beiden Armen zugleich seinen Oberkörper umfasste und sein Kinn weit in den Mantelausschnitt hinein schob, um die Kälte weniger zu spüren. Einem einsamen Soloisten gleich trieb er in seinem Korb mit zunehmender Geschwindigkeit davon, angehängt an einer immer kleiner werdenden Kugel aus endlosen Bahnen gelber Seide, allein, hinein in einen Abgrund aus Sternen und Eis, und im Traum beneidete er sich selbst trotz dieses schrecklichen Schicksals.
(Ausschnitt aus "Inseltod" 2020/2022)
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