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Polar Park

 

 

Bald war er siebzig, noch kein alter Mann, wie er hoffte, sich sagte (und andere sagten das netterweise auch), ein älterer Mann, recht gut im Schuss; oder doch schon ein alter Mann? Er wusste es nicht. In seiner zunehmenden Isolation - in die Jahre gekommene Kumpel tot oder im Sterben liegend, seine alten Geschäftskontakte abgerissen, kein Büro mehr, in das er gehen könnte, die Frau schon lange weg, seine Kinder beschäftigt und von Sorgen in Anspruch genommen, wie er selbst es in mittleren Jahren gewesen war - entwickelte er ein zunehmendes Interesse an den Spuren, die das Leben an ihm hinterlassen hatte. In der Blüte seiner Jahre, als er jeden Tag zehn oder zwölf Stunden arbeitete und das ganze Wochenende geselligen Umgang pflegte, hatte er kaum Augen für dergleichen gehabt. Jetzt fing er an, die gegenwärtigen und die zukünftig zu erwartenden physischen Schmerzen zu bedenken, die vorhersehbaren Selbstverleugnungen, mit deren Hilfe er dem alten Mann in ihm ausweichen und versuchen würde, in Form zu bleiben und sich das Gefühl von Wohlbefinden so lange zu erhalten, wie er konnte. Um so etwas wie eine hinlänglich gute Form zu erhalten, wurde der Aufwand allerdings immer grösser. Die Tendenz für „recht gut im Schuss sein“ war trotzdem sinkend. Ein Kampf mit Windmühlen, das Ende absehbar. Ein wenig Aufschub war möglich, mehr nicht. Ihm schien, als steckte von Anfang an ein flüchtiges Leben in ihm, das jede wie auch immer geartete Gegenwart immer schon transzendierte. So, als wäre er noch nie, und würde auch nie, in einem wirklichen, beständigen, stabil verlässlichen Leben ankommen. Wobei er nicht einmal wusste, was das sein könnte.

 

                                                                         

 

Während er draussen auf dem Balkon sass und die Vögel hin und her flogen zwischen den schütteren Bäumen, die gerade ihre letzten farbigen Blätter verloren, überlegte er, wie oft er in diesen bald siebzig Jahren allein gewesen war. Eigentlich fast immer. So fühlte es sich zumindest an, und die Dinge erzählen, wie sie sich anfühlten, nicht zwingend, wie sie gewesen waren, das wollte er ja. Obwohl, da gab es auch anderes, er vergass nie, wie Li sich einmal an einem sonnigen, aber kühlen Oktobertag plötzlich auszog, und vom Steg aus einen perfekten Hechtsprung - ihr Hinterteil ein jäh aufleuchtendes weisses Herz, in der Mitte gespalten, im Zentrum seines Blickfeldes - in den schwarzen See vollführte, an dem sie bei ihrer Wanderung angekommen waren. Wie ihr Kopf wieder auftauchte, klein und nass wie der eines Otters, ihre Lider flatterten, und ihr Mund rief „Huuuh!“ Er konnte immer noch den Geruch nach schwarzem, morastigem See mit Boden aus totem Laub riechen, die wilde und feuchte Lust auf sie, auf Leben spüren. All das gab es. Doch aus einem Grund, den er nicht kannte oder verstand, war allein sein für ihn immer die wesentliche Essenz gewesen. Das Fundament des Seins, in dem jenes stille Selbst geborgen war, das durch die Zumutungen des Alltäglichen zuweilen so übel gezaust und durcheinandergebracht wurde. Gewiss, allein sein war verbunden mit Schmerz, aber von der Art, die Heilung versprach. Falls es so etwas wie wohltuenden Schmerz gab, dann war allein sein günstig dafür.

 

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Allerdings war in seinem Geist nicht viel los in letzter Zeit. Ob er das positiv sehen sollte - Ruhe, Gelassenheit - oder negativ - allmähliches Wegdämmern, Erlöschen -, wusste er nicht. Vielleicht sowohl als auch. Obschon, in den schönen grossen alten Romanen gab es kaum sowohl als auch. Die Menschen lebten in ihnen ohne Kompromisse und starben auch so, eventuell vor lauter Liebe. Oder für irgend ein anderes hehres Ideal. Für ihn jedoch galt eher sowohl als auch. Das Eine und das Andere hielten sich die Waage, je näher er ein Wort ansah, desto ferner schaute es zurück. Er war keiner dieser braungebrannten Pioniere, die ihr kompromissloses Leben ohne sowohl als auch führten und zuletzt aus Liebe, Leidenschaft oder Idealismus starben. Waren Kompromisse wirklich so verachtenswert? Sowohl als auch, je nachdem. Er war also kein Pionier. Aber was war er dann?

Öfters tadelte er sich innerlich, wegen seines ausgedehnten Müssiggangs, tadelte sich allerdings sofort danach auch, weil der erste Tadel - Müssiggang - ja nur zeigte, wie er sich von Idealen, die gar nicht seine eigenen waren - etwas tun, Leistung, vorwärts machen - bestimmen liess. Sogleich schoss in diesen Momenten ein rebellischer Funke in ihm hoch, wies er Leistungsgedanken, Machertum empört zurück, beschleunigte aus Ärger seine Schritte für ein Weilchen energisch, bevor er wieder abkippte, wegdriftete in Tadel eins: Müssiggang, Nichtsnützigkeit, Schlafmützigkeit, was umgehend einen (nun schon weniger ausgeprägten) Funken der Rebellion erzeugte. Und so weiter, und so fort, hin und her, sowohl als auch, der eine Tadel wider den zweiten, bis er zuletzt zum Sofa schlich und sich zur Erholung hinlegte.

 

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Irgendwo hatte letzte Nacht lange Zeit ein Hund gebellt. Einsam, echolos hallte das Bellen hinaus in die stille, schwarze Nacht - wie in eine grenzenlose, schwarzsamtene Zelle. Er lag wach, hörte zu, wunderte sich, und merkte, dass ihn dieser einsam bellende Hund berührte. Was ihm selber befremdlich erschien. War es nun schon so weit, dass er sich nachts in der Finsternis mit einem bellenden Tier verbunden fühlte? Wieder dachte er daran, dass er die Dinge erzählen wollte, wie sie sich anfühlten. Er lauschte hinaus, das Bellen ging nach einer Pause weiter, verstummte wieder, und er hörte das Rauschen in seinen Ohren. Tinnitus. Irgendeinmal hörte das Bellen ganz auf, nur noch Rauschen. Draussen stand Stille reglos wie ein grosses Fragezeichen. Er lag in seinem Bett, das sich - so erschien es ihm - zuerst langsam, dann immer schneller nach hinten neigte, wie abhob und davonflog, verwundert verfolgte er dieses Fluggefühl, dies musste wohl so sein, weil ja die Oberfläche unter seinen Füssen gekrümmt war und rückwärts raste, dem Sonnenaufgang entgegen. Er schaute von seinem behütenden Bettausguck aus weit hinein in den leeren Raum ungeheuren Ausmasses, in den er immer schneller hineintrieb, jeder Stern Lichtjahre entfernt vom nächsten, alle sich unablässig voneinander entfernend, auseinanderstrebend, bis schliesslich an einem unfassbaren Endpunkt, den es nie geben würde, das Universum für sich selber unsichtbar wäre, kalt und dunkel bis in alle Ewigkeit. Amen. Und er sah im Halbschlaf Leben nicht als Stufen des Seins, die zu immer höheren, komplexeren und geistigeren Formen hinaufführten; sondern als dumpfen, flachen Sumpf, diffuse Suppe blinder Gene, die allein deshalb, weil sie existierten, egal in welch niedriger, grotesker, mörderischer oder parasitärer Kreatur auch immer, dazu neigten, ebendiese Kreatur fortbestehen zu lassen, ohne den leisesten Hauch einer Absicht, eines höheren Zwecks. Reine Lotterie. Und er trieb ermattet wie ein kleiner, einsamer Soloist mit zunehmender Geschwindigkeit davon, allein, in einen Abgrund aus Sternen und Eis, und im Traum beneidete er sich selbst trotz dieses seines schrecklichen Schicksals. 

 

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Dass er in letzter Zeit öfters weinte, fand er der Welt angemessen. Kürzlich kamen ihm abends einfach so die Tränen, ohne dass er wusste, warum und worüber. Eine gewisse Traurigkeit umschwebte ihn fast immer, schon immer, ohne dass viel davon zu sehen war für andere, das hoffte er jedenfalls. Ein schwarzes, dünnes Gewebe, ein wenig angefächelt von Wind, so schwebte sie um ihn, ein zerbrechliches Gewebe, das sich leicht in Bruchstücke auflöste. Wie Seide, die zu lange an der Sonne gehangen hatte. Schwarze Flocken, schwebend, tanzend. Wie nebenbei neben ihm her schwebende Trauer. Mit einem Zug ins Freundliche sogar, ihn sozusagen umwerbend. Umgab ihn schmeichelnd. Schwarzer lautloser Schmetterling. Doch er blieb vorsichtig, hielt Abstand. Wer wusste schon, was sich noch aus diesem schwarzen Gespinst herausbilden mochte. 

Dann zerbrach er beim Aufstehen eine Bierflasche, vergass die Scherben und zerschnitt sich die Füsse, ging mit blutigen Füssen durch die Wohnung, hinterliess eine Blutspur auf dem Linoleum. Er nahm eine Scherbe vom Boden, stellte sich vor den Spiegel im Bad und drückte die Scherbe tief in die Haut über der Halsschlagader. Er sah sich in die Augen, rot, entzündet, dunkel umrandet. Und sagte laut: „Hör auf“. Der Widerhall dieser zwei Worte in der leeren Wohnung brachte ihn zu sich selber zurück. Er wusch sich das Gesicht dreimal, mit viel Seife, rieb es trocken. Aber die schwarzen Ringe um die Augen blieben. Und die Scherbe lag von da an im Badezimmerschrank.

 

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Gestern war er die zwei Blöcke weit bis zum Kiosk an der Ecke gegangen und hatte sich Zigaretten und Bier gekauft. Eine Gruppe Jugendlicher hing dort herum, sie redeten, lachten, er merkte, wie sie ihn aus dem Augenwinkel beobachteten. Eine der Jugendlichen kam zu ihm. „Kommst du nicht zu uns?“, fragte sie sachlich. Er lächelte gerührt, verzog etwas schmerzlich das Gesicht, fühlte sich alt. Die Jugendliche sah ihn aufmerksam an. „Hat deine Frau dich verlassen? Bist du deswegen so traurig?“ Wie sie darauf kam, war ihm ein Rätsel. Vielleicht hatten ihre Eltern sich getrennt. „Die anderen wohnen hier, sie sehen eben vieles“. Die Jugendliche lächelte. Eine Weile schwiegen sie, das dumpfe Geräusch des getretenen Balls drang herüber. Dann sagte er: „Ich bin zu alt für euch“. Sie musterte ihn. „Wie alt denn?“. Er überwand sich und sagte es ihr. Sie überlegte lange. Dann sagte sie ganz nüchtern: „Stimmt, das ist schon alt, aber noch nicht ganz richtig alt“. Das tat gut. „Komm zu uns, erzähle uns, warum du traurig bist“.

 

Er ging dann mit ihnen hinüber in den Park. Einige spielten Fussball. Er setzte sich auf eine Bank, das Mädchen zu ihm. Er erzählte mehr als er eigentlich wollte und konnte seine Tränen schliesslich nicht mehr zurückhalten. Sie machte kein Aufhebens, nahm das geduldig hin, er spürte, sein Weinen war für sie in Ordnung. Dann sassen sie lange schweigend auf der Bank, rauchten und tranken Bier, schauten dem Fussballspiel zu. Es war schon Nacht, als er nach Hause ging. „Tschüss“, hatte die Jugendliche gesagt, einen schnellen Schritt hin zu ihm gemacht, ihn kurz und fest gedrückt. 

 

Erst beim Weggehen hatte er das Schild am Eingang des Parks gesehen. Polar Park. Später erfuhr er, dass dort vor Jahren ein Wildpark gewesen war, unter anderem mit einem Eisbär. Er fragte etwas herum, aber niemand wusste, was aus dem Bär und den anderen Tieren geworden war. Sie waren verschwunden. Vielleicht wieder in der Heimat, am Polar? Wohl kaum. Ein Fussballfeld war jetzt dort, einige Bänke, eine von Vandalen verwüstete Feuerstelle. Nur der Name war geblieben. Als er an all das dachte, kamen ihm wieder die Tränen. 

 

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In letzter Zeit fiel ihm auf, wie hässlich, gierig und widerwärtig die Menschen waren. Putin lächelte am Fernseher schmierig. Aber auch sonst. Es war so schlimm, dass er nicht einmal richtig hinschauen mochte. Verkniffene Münder, feindselige Blicke, Ellbogen raus, wenn nötig Tritte in die Kniekehlen, kalte Augen. Allerdings war er unsicher, ob das nicht auch mit ihm selber zu tun hatte. Seine eigene Griesgrämigkeit, Grantigkeit, die sich über andere ergoss, sie zur Zielscheibe nahm? Sein eigenes nicht Glücklichsein, das seinen Blick verschob, so dass er es statt bei sich an den anderen wahrnahm? Er fand im Stillen die Skepsis, die er damit sich selbst entgegenbrachte, lobenswert, erfreulich, zu einem Lächeln animierend. Obgleich, als er dann wieder um sich blickte, sah er immer noch die gleichen trüben, unschönen Mienen. War er’s, waren’s die andern?

 

In einem überfüllten Café versperrte eine Frau mit ihrem riesigen Kinderwagen, in dem ein weinendes Kind sass, zwei Tische, las angestrengt Zeitung und ignorierte die Umgebung demonstrativ. Ein Mann kam mit seiner Tasse in der Hand und sagte etwas zu ihr. Sie blickte auf, lächelte kalt, aber aufrichtig, wie eine Märchenfigur, die nach einem endlos langen Tiefkühlschlaf keinerlei Lust zum Auftauen hat. Und las ungerührt weiter. 

 

Zum weiss nicht wievielten Mal fragte er sich, ob er all das überhaupt beachten sollte, warum er - und all die anderen - sich das antaten. 

 

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Seit dem Tag, an dem die hundert Jahre Einsamkeit begonnen hatten, stand er morgens um vier Uhr auf und trank in der Küche allein seinen Kaffee. Während die Welt noch schlief, machte er das seither, gefühlte hundert Jahre lang, jeden Tag. An einem der zahllosen solchen Morgen hörte er, wie im Radio ein Experte über die Gottesnamen im Islam redete. Die Rede war von Rahman und Rahim. Das sind zwei der 99 Namen Gottes, erläuterte der Experte. Es folgte ein Stück Sufi-Musik. Beide Namen, so der Experte, haben denselben Ursprung. Doch Rahim könne auch die Gnade eines Menschen gegenüber seinen Nächsten meinen. Im Deutschen werde in einigen Übersetzungen Allerbarmer für Rahman und Barmherziger für Rahim gesetzt. Der erste Name sei umfassend und mit metaphysischer Gerechtigkeit konnotiert, der zweite mit Nächstenliebe. Er ergänzte noch: Das alles sei natürlich nur eine vereinfachende Zusammenfassung, ohne hier jetzt die im Grunde unumgänglichen Differenzierungen ausführen und darstellen zu können. Man spürte, der Zwang zur simplifizierenden Verkürzung im Dienste der Verständlichkeit peinigte ihn enorm. 

Dann wieder Musik. 

In der Tat, sagte er sich, während er seine Tasse in die Spüle stellte, wünschte man sich - vielleicht mehr als alles andere - die Gnade des Universums angesichts der Grausamkeit des Irdischen. Und barmherzig, in dem ja etwas Liebevolles mitklang, erschien passend. 

Doch wenn er ehrlich war, hatten die Wörter erbarmen und barmherzig wenig mit seiner Welt zu tun. Sein Leben war ja keine Übersetzungsübung. Es war schon klar, das waren bloss Versuche, ein tieferes Empfinden zu erkunden an einem Ort, der auf der Strecke vom Verstand zum Herzen lag; einen Ton zu finden jenseits von Zeit und Sterblichkeit, aus jener vorsprachlichen Stelle heraus, die überhaupt erst nach einem Ausdruck suchte.

 

Er stellte die gespülte Tasse weg, löschte das Licht und setzte sich auf den Balkon, hinaus in die Nacht, in der noch kein Dämmerungsstreifen sich zeigte, und blickte suchend empor. Aber es gab keine Sterne am Himmel. 

 

Wo wohl der Eisbär sein mochte? 

                                                                       

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An einem Vorfühlingsnachmittag

 

An einem Vorfühlingsnachmittag,als die Wärmeankündigung der scheu zwischen den grauweissen Wolken aufscheinenden Sonne sich angesichts einer strengen Bisenlage als trügerisch erwies, trat er nach längerem wieder einmal vor die Tür, lenkte seine Schritte Richtung Stadt, um sich ein wenig umzusehen, spürte schon bald, wie wohl ihm das Gehen und die Bewegung tat, und setzte sich nach einem längeren Rundgang von der ungewohnten Anstrengung ermattet auf eine dunkelgrün bemalte Parkbank, dies in der Hoffnung, durch die kargen Sonnenstrahlen etwas Wärme auf sich einwirken lassen zu können. Wie er da so sass, ging ein Mädchen an ihm vorbei, am Rücken einen bis zum Zerreissen durch ein Übermass an Inhalt gespannten Schülerrucksack, dazu über die Schultern links und rechts je zwei oder drei Taschen hängend. Zum Verwundern erschien es ihm, mit wie Vielem beladen ein junger Mensch, noch ein Kind eigentlich, sich abplagen musste, erstaunlich schien ihm auch, was heutzutage für die Alltagsbewältigung offenbar alles mit sich zu führen war. Schwer beladen wie ein sich in Migration befindlicher, unbeheimateter Mensch schwankte hier schon ein Kind durch die Strassen, gleichsam wie wenn in jedem Augenblick damit zu rechnen wäre, alles zurücklassen zu müssen ausser dem, was man - sei es zufällig oder ausgewählt -  als unverzichtbar gerade auf sich trug. Ob sich darin auch ein verdecktes, verstecktes Wissen darum ausdrückte, dass das Allermeiste, von dem wir üblicherweise annehmen, es gehöre uns, im Grunde nur geborgt, ausgeliehen, wenn nicht sogar gestohlen ist, blieb ihm unergründlich.  Und wer weiss, so sagte er sich noch, ob darin nicht auch der Wunsch schlummerte, das allzu Viele, was man gemeinhin sein Eigentum zu nennen pflegte, eines Tages hinter sich lassen zu können - und ob damit sogar etwas Anderes, Unbekanntes, unter der Last der vielen Besitztümer vorderhand noch Verborgenes zu gewinnen wäre.   (Sebald sei gegrüsst; Frühjahr 2021 Lausanne)

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Der einsame Soloist
 
Konnte es sein, dass die Gefühle vielleicht am Ende dort am tiefsten waren, wo sie am Nichtigsten sich bewährten? Die Frage stieg auf in ihm, immer häufiger, sie fragte nach dem Nichtigsten, schien selber aus der Ferne zu kommen, von weit her, und doch von dort, wo dunkle Erinnerungen lagern, Einzelnes, Zusammenhängendes, Zerrissenes, Fetzen, Reste, Spuren und Bilder, von der Zeit wie mit Staub überschichtete, unkenntliche Ablagerungen. So wie wenn Asche angeblasen wird, ohne den geringsten Widerstand auseinanderfliegt und mit einem Mal der Blick sich eröffnet auf ein glänzend edles Stück darunter, so glomm diese Frage immer wieder auf in ihm. Und erlosch wieder. Doch er verstand weder die Frage noch kannte er eine Antwort.
 
Ohne dass er zu sagen wusste warum, war dieser fragende Satz zum Ende des im übrigen einfachen, aber köstlichen Nachtessens – Insalata mista, Penne con Scampi, Gelati und natürlich Vino Rosso regionale – wieder aufgetaucht. Sie machte ihn müde, bettschwer, bereit, in einen langen, möglichst endlosen Schlaf einzutauchen, dennoch tat er einige Schritte - wie er sich sagte - hinaus in die frische, kühle Abendluft. Das Gehen tat wohl, und just mit dem Einbruch der Dämmerung gelangte er auf einen erhöhten Platz. Von diesem Aussichtsposten konnte er hinausblicken über Dorf und Meer. Die Nacht begann hereinzubrechen, und wie in einem Labyrinth nahm in den verwinkelten Gassen des Ortes die Beleuchtung nach und nach ihren Dienst auf. Zittrige Lichtspuren sprangen an in flackernden Anläufen, orangefarbiger Sodiumglanz zeichnete ein Spinnennetz entlang den verwinkelten Gässchen und Passagen. Ihm schien dies ein gleichsam kläglicher Versuch, der sich jetzt ausbreitenden übermächtigen Dunkelheit wenigstens ein Geringes entgegenzusetzen. Das nachtschwarze, still daliegende Meer und der wie in einem plötzliche Lichtsturz sich völlig  verdunkelnde Himmel zerflossen irgendwo in der unermesslichen Weite ineinander, ohne dass der geringste Ansatz einer Horizontlinie auszumachen gewesen wäre, Meer und Himmel schienen in der Ferne sich verschränkend zu vereinen wie ein einzig einig Wesen, alles umfassend und alles Licht vernichtend in schwarzer Nacht. Kein Hauch regte sich. Die Schatten stiegen an den Felswänden hinter dem Ort empor, riesig und immer steiler erscheinend erhoben sie sich drohenden Kulissen gleich über den armseligen Lichtern des Dorfes, so dass er meinte, sie neigten sich ihm immer mehr entgegen und würden im nächsten Augenblick über ihn hinweg und ins Meer hinausstürzen. Er fröstelte. Da traten hervor die Sterne über ihm aus der Tiefe des Weltenraumes, einer nach dem andern, bis das Schwarz des Himmels übersät war von zahllosen schimmernden Lichtpunkten. Eingehüllt in Dunkelheit war ihm plötzlich, als befände er sich am obersten Punkt der Erde, dort, wo der Abgrund des Weltalls sich funkelnd und in unsagbarer Langsamkeit um den reglosen Beobachter herum dreht. Er fror, taumelnde  Müdigkeit ergriff ihn, beinahe hätte er das Gleichgewicht verloren. Weit sah er von seinem Posten hinaus in die schwarze Nacht und tief hinein in die Dunkelheit. Da war ihm, als stünde unmittelbar bevor eine Art von Offenbarung, als sei Alles kurz davor, sich auf eine andere Ebene zu begeben, als stehe er vor etwas Unnennbarem, endgültig Wichtigem; als triebe er in der Strömung der Nacht  weit hinaus in ein zugleich ersehntes und gefürchtetes Reich. Doch nichts geschah. Eine kleine Weile lang sah er sich selber, wie er auf diesem seinem Aussichtsposten schwebte zwischen Zeit und Ewigkeit, Jetzt und Erlösung, Licht und Schatten. Genau in der Mitte.
 
Dann wandte er sich um und ging vor Müdigkeit schwankend zurück in sein Zimmer. Dort träumte er, wie er ausflog in eine grenzenlos weite Sphäre und nie mehr zurückfand. Er sah sich selber, wie er im Korb eines Fesselballons in der Ecke kauerte, mit beiden Armen zugleich seinen Oberkörper umfasste und sein Kinn weit in den Mantelausschnitt hinein schob, um die Kälte weniger zu spüren. Einem einsamen Soloisten gleich trieb er in seinem Korb mit zunehmender Geschwindigkeit davon, angehängt an einer immer kleiner werdenden Kugel aus endlosen Bahnen gelber Seide, allein, hinein in einen Abgrund aus Sternen und Eis, und im Traum beneidete er sich selbst trotz dieses schrecklichen Schicksals.    (Ausschnitt aus "Inseltod" 2020/2022)

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